Mut zur inklusiven Ausbildung – VdK-Präsidentin Verena Bentele im Stuzubi-Interview

Vdk-Präsidentin Verena Bentele im Stuzubi Interview zum Thema Ausbildung und Inklusion

Die VdK-Präsidentin Verena Bentele ist eines der prominentesten Gesichter, wenn es um die Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung geht. Im Stuzubi-Interview erklärt sie, wie Betriebe Menschen mit Behinderung schon in der Ausbildung dabei unterstützen können, ihr berufliches Potenzial zu entfalten.

Stuzubi: Schon seit Jahren macht sich der demografische Wandel im Ausbildungsmarkt bemerkbar: Unternehmen fällt es zunehmend schwer, ihre Ausbildungsstellen zu besetzen. Auch junge Menschen mit Behinderung als Bewerber*innen verstärkt in den Blick zu nehmen würde sich vor diesem Hintergrund eigentlich anbieten. Geschieht dies aus Ihrer Sicht ausreichend?

Verena Bentele: Leider hat Deutschland nach wie vor großen Nachholbedarf. Viele Unternehmen sehen bei Menschen mit Behinderungen nicht in erster Linie deren Fähigkeiten, sondern häufig vermeintliche Defizite! Das betrifft sowohl den Arbeits- als auch den Ausbildungsmarkt. Die duale Ausbildung ist aber ein zentrales Element unseres Arbeitsmarkts. Für mich ist es vollkommen unverständlich, dass jedes Jahr unzählige Betriebe händeringend nach Auszubildenden suchen, während gleichzeitig ein enormes Potenzial ungenutzt bleibt.

Dabei verlangen Herausforderungen wie der demografische Wandel, der Fachkräftemangel und die zunehmende Akademisierung ein Umdenken. Unternehmen müssen den Mut haben, gewohnte Pfade zu verlassen und sich stärker für inklusive Ausbildungsmöglichkeiten öffnen. Dazu gehört es, junge Menschen mit Behinderung aktiv in den Blick zu nehmen oder Kooperationen mit Berufsbildungswerken einzugehen. Ein gutes Beispiel ist hier die sogenannte verzahnte Ausbildung, bei der Berufsbildungswerke und Unternehmen eng zusammenarbeiten und jungen Menschen mit Förderbedarf den Einstieg in die Ausbildung ermöglichen.

Ein Hindernis für die Einstellung von Menschen mit Behinderung ist sicher der mangelnde Kenntnisstand vieler Betriebe über bestehende Fördermöglichkeiten, etwa Lohnzuschüsse oder finanzielle Unterstützung beim barrierefreien Umbau von Arbeitsplätzen. Trotz der Vorteile einer inklusiven Belegschaft zögern viele Arbeitgeber noch, häufig aus Unsicherheit oder aufgrund von Vorurteilen. Dabei ist oft nur etwas Kreativität gefragt. Arbeitsplätze und Aufgaben können so gestaltet werden, dass die individuellen Stärken bestmöglich zum Tragen kommen.

Neue Bewerberpotenziale für die Ausbildung gewinnen

Stuzubi: Viele Unternehmen haben Probleme damit, potenzielle Bewerber*innen für ihre Ausbildungsplätze zu erreichen. Statt klassischer Medien nutzt die Generation Z Soziale Plattformen wie TikTok oder Instagram – für Betriebe oft ein unbekanntes Terrain. Gibt es spezielle Kanäle, über die Firmen mit Jugendlichen mit Behinderung in Kontakt treten und Ausbildungsangebote vorstellen können?

Ja, es gibt sowohl klassische als auch moderne Wege, um gezielt Jugendliche mit Behinderung anzusprechen und sie über Ausbildungsangebote zu informieren. Zu den bewährten, herkömmlichen Anlaufstellen gehört der Arbeitgeber-Service der Bundesagentur für Arbeit. Er unterstützt Unternehmen gezielt bei der Suche nach geeigneten Auszubildenden – auch junge Menschen mit Behinderung. Bundesweit wurden außerdem sogenannte „Einheitliche Ansprechstellen“ für Arbeitgeber eingerichtet, welche die Betriebe zu den Themen Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung oder Gleichstellung beraten.

Daneben spielen die Integrationsfachdienste eine zentrale Rolle. Sie unterstützen Menschen mit Behinderung bei der beruflichen Teilhabe, helfen bei der Arbeitsplatzsicherung und beraten zugleich Arbeitgeber, Schwerbehindertenvertretungen sowie Personal- und Betriebsräte. Weitere wichtige Akteure sind die Inklusionsberaterinnen der Industrie- und Handelskammern sowie Ausbildungsstätten, Reha- und Bildungsanbieter.

Zahlreiche Inklusionsbetriebe veröffentlichen offene Ausbildungs- und Arbeitsplätze auf ihren Websites. Eine Liste von über 1000 Unternehmen stellt die Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen beispielsweise im Netz zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es zahlreiche – auch regionale – Angebote, die über Suchmaschinen zu finden sind. Und ein Blick in die sozialen Medien lohnt sich auch. Besonders auf TikTok und Instagram machen Hashtags wie Inklusion, Barrierefreiheit oder Chancengleichheit Inhalte gezielt sichtbar. Immer mehr inklusive Arbeitgeber geben auf diesen Plattformen authentische Einblicke in den Arbeitsalltag und sprechen hier junge Menschen auf Augenhöhe an. Wer also Jugendliche mit Behinderung erreichen möchte, kann sowohl auf bewährte Netzwerke und Partner zurückgreifen als auch neue Wege über soziale Medien und inklusive Jobplattformen einschlagen.

Vorbild beim Thema Inklusion: der öffentliche Dienst

Stuzubi: Gerade der öffentliche Dienst wirbt dafür, sich in besonderem Maß für Inklusion im Personalwesen einzusetzen. Sind die staatlichen Institutionen in diesem Bereich der freien Wirtschaft einen Sprung voraus?

Verena Bentele: Öffentliche Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Bewerber in der Regel grundsätzlich zum Vorstellungsgespräch einladen, außer wenn der Bewerber offensichtlich nicht geeignet ist. Geht es also um eine Stelle im öffentlichen Dienst, kann man eine Benachteiligung bereits dann vermuten, wenn eine Person mit schwerer Behinderung nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird.

Viele Behörden schreiben Stellen mit dem Zusatz „Bewerbungen von Menschen mit Behinderung sind ausdrücklich erwünscht“. Das ist keine bloße Formalität, denn meist werden Menschen mit Behinderung tatsächlich bevorzugt eingeladen. Inklusion ist in Behörden oft besser organisiert als in privaten Unternehmen. Dabei spielen gut organisierte Schwerbehindertenvertretungen und Betriebsräte sowie Personalräte eine wichtige Rolle.

Dazu muss man wissen, dass Unternehmen in Deutschland ab einer Mitarbeiterzahl von 20 Personen gesetzlich verpflichtet sind, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung zu vergeben. Dass weniger als 39 Prozent der rund 179.000 betroffenen Firmen diese Quote vollständig erfüllen, zeigt, dass viele Unternehmen ihrer Verantwortung hier in keiner Weise gerecht werden. Der öffentliche Dienst kommt seiner Beschäftigungsplicht von schwerbehinderten Menschen immerhin zu 65 Prozent vollständig nach.


Vdk-Präsidentin Verena Bentele im Kurzporträt, Vita
VdK-Präsidentin Verena Bentele © VdK / Susie Knoll

Verena Bentele, Jahrgang 1982, leitet als VdK-Präsidentin den größten Sozialverband Deutschlands. Von 2014 bis 2018 war sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Vor ihrem sozialpolitischen Engagement war sie im Leistungssport als Biathletin und Skilangläuferin aktiv: Bentele ist vierfache Weltmeisterin und gewann zwölfmal bei den Paralympics. Sie ist von Geburt an blind.


Stuzubi: Universitäten und Hochschulen sind dazu verpflichtet, Studierenden mit Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am Studium zu ermöglichen. Werden sie diesem Anspruch gerecht?

Verena Bentele: Viele Universitäten und Hochschulen wollen wirklich inklusiver werden. Aber in der Realität hängt die Umsetzung stark von der jeweiligen Hochschule ab. Es gibt viele gute Ansätze, engagierte Mitarbeitende und konkrete Verbesserungen – aber gleichzeitig noch viel Luft nach oben, besonders wenn es um digitale Barrierefreiheit, Vermeidung von Stigmatisierung und konsequent nutzerfreundliche Verfahren geht.

Stuzubi: Sie selbst haben Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert. Hat das gut funktioniert?

Verena Bentele: Für mich hat das Studium an der LMU gut funktioniert, weil wir eine sehr engagierte Studienberatung für Studierende mit chronischer Erkrankung und Behinderung hatten und dort Zivildienstleistende uns zum Beispiel bei der Suche nach Büchern in der Bibliothek unterstützen konnten. In den Vorlesungen und Seminaren hing die Barrierefreiheit von den jeweiligen Lehrenden ab. Meine Erfahrung war, dass durch ein offenes Gespräch und Hinweise meinerseits meist gute Lösungen gefunden wurden. Meine Prüfung in Mediävistik konnte ich mündlich ablegen, weil der Computer mir Mittelhochdeutsch nicht vorlesen konnte.

Stuzubi: Die Wokeness-Bewegung hat in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Maßnahmen gegen Diskriminierung und für mehr Gleichstellung geführt. Haben sich die beruflichen Karriereperspektiven für junge Menschen mit Behinderung dadurch verbessert?

Solange Menschen mit Behinderungen individuell oder strukturell diskriminiert werden, braucht es Maßnahmen gegen Diskriminierung und für Gleichstellung. Das Bewusstsein hat sich in den vergangenen Jahren zwar verbessert, aber für den VdK reicht das nicht aus. Wir fordern gesetzliche Regelungen – unter anderem eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen im Einzelfall –, die auch für private Anbieter verpflichtend sind.

Chancengleichheit in der Ausbildung: Tipps für Betriebe

Stuzubi: Was möchten Sie Ausbildungsbetrieben und Hochschulen in Bezug auf die berufliche Chancengleichheit junger Menschen mit Behinderung mit auf den Weg geben?

Verena Bentele: Chancengleichheit beginnt mit Bewusstsein und dem ehrlichen Willen, Vielfalt als Bereicherung zu sehen. Junge Menschen mit Behinderung bringen oft eine besondere Perspektive, Resilienz und Problemlösungskompetenz mit, die in jeder Ausbildung und jedem Studium wertvoll sind.

Ich wünsche mir, dass Ausbildungsbetriebe und Hochschulen nicht nur „Inklusion“ sagen, sondern sie aktiv leben. Das bedeutet beispielsweise, auf mehreren Ebenen Barrieren abzubauen: physisch, digital und in den Köpfen. Es bedeutet auch, junge Menschen nach Potenzial und Motivation zu beurteilen, und eben nicht nach Einschränkungen.

Universitäten müssen die Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderung wesentlich verbessern. Denn oft gibt es diese nur auf dem Papier. Im Einzelfall wird ein Nachteilsausgleich wie zum Beispiel die Verlängerung der Prüfungszeit oder Ähnliches nicht selten ohne großes Verständnis für die Situation der Betroffenen abgelehnt.
Natürlich gehören ebenso Unterstützungsangebote dazu, wie barrierefreie Lernmaterialien, flexible Prüfungsformate oder Mentoring. Jede Maßnahme, in die investiert wird, bedeutet nicht nur Fairness. Sie eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, Talente zu entdecken, die sonst vielleicht übersehen worden wären. Ich sage es ganz klar: Chancengleichheit ist kein Bonus, sondern Grundvoraussetzung für eine starke, vielfältige und zukunftsfähige Gesellschaft.

Stuzubi: Haben Sie auch für uns als Messeveranstalter ein paar Tipps, wie wir junge Menschen mit Behinderung noch besser mit Ausbildungsbetrieben und Hochschulen zusammenbringen können?

Wichtig ist eine zielgruppengerechte, barrierefreie Kommunikation – etwa durch leichte Sprache, Gebärdensprache-Videos, visuelle Leitsysteme und inklusive Social-Media-Inhalte. Es gibt auch die Möglichkeit zu Kooperationen mit Förderschulen, Beratungsstellen und Verbänden, um gezielt junge Menschen mit Behinderung einzuladen und die Teilnahme zu erleichtern, auch gemeinsam mit Begleitpersonen. Auf der Messe selbst sind eine barrierefreie Infrastruktur und persönliche Unterstützung wichtig für ein inklusives Umfeld.

Die Aussteller selbst können durch kurze Inklusions-Workshops im Vorfeld ermutigt werden, inklusive Ausbildungsangebote sichtbar zu machen. Und auf der Bühne können sich alle von Best-Practice-Beispielen motivieren lassen – etwa durch Role Models mit Behinderung, die von ihrer Ausbildung oder ihrem Studium berichten.


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